Datum=08.08.2008; Quelle=LVZ/Leipziger_Volkszeitung; Ressort=Kultur; Sektion=L/Leipziger_Volkszeitung-Stadtausgabe/Stadtausgabe; Seite=10; ———————————————————————————————— „Tango kann man überall tanzen“ In die Welt und zurück: Die Kulturmacherin Anna-Louise Kratzsch holt internationale Kunst nach Leipzig Auf Rügen ist sie geboren, zwischendurch studierte sie die Welt und die Künste. Die holt Anna Louise Kratzsch jetzt mit dem „Leipzig International Art Programme“ (LIA) nach Leipzig. Außerdem tanzt sie Tango, schreibt ein Buch, macht Ausstellungen, Musik und weltweit von Leipzig reden. VON JÜRGEN KLEINDIENST „Manchmal ist es furchtbar, nur ein Mensch zu sein.“ Anna-Louise Kratzsch schickt diesen Satz wie einen Blitz in das Gespräch, das etwas undurchsichtig geworden ist, seit sie versucht, ihre Biographie im Schnelldurchgang zu sortieren. USA, Peking, Madrid, London ... „Moment, wann war das nochmal, ach nee ...“ Jetzt ist die vielbegabte Kulturmacherin erst einmal gelandet. In der Leipziger Spinnerei organisiert die 28-Jährige das „Leipzig International Art Programme“. Künstler aus Australien, Japan, Irland, China, den USA, der Schweiz und Schweden arbeiten hier in den großzügigen Ateliers der Halle 18 und geraten dabei in Wechselbeziehungen mit der hiesigen Kunstszene, deren Genpool nach den Jahren der medialen Feierei vielleicht die eine oder andere Auffrischung gebrauchen kann. Im Oktober kommen sechs Künstler aus der Ukraine hinzu. Im November soll ein Kunstzug durch Leipzig ziehen, Bazon Brock wird ein viertägiges Seminar zu internationaler Kunstrezeption und dem Kunstbetrieb veranstalten. Am 6. September, zum Spinnerei-Herbstrundgang, wird der australische Botschafter Ian Kemish eine Ausstellung eröffnen. Zu sehen sind Werke von Shonah Trescott, die im Rahmen des LIA ihre Stillleben und blauschweren Landschaftsbilder entwickelt. Gezeigt werden auch Arbeiten von Euan Macleod, einem der renommiertesten Künstler des Fünften Kontinents. „Er ist gewissermaßen der Neo Rauch Australiens“, sagt Anna Louise Kratzsch, nicht ohne Stolz darüber, dass ihr Projekt mehr und mehr wahrgenommen wird. Anna Louise Kratzsch verkörpert einen Typus Kulturmacher, wie er auch in Leipzig zunehmend gebraucht wird. Lokal verwurzelt, international ausgebildet und vernetzt, dabei in der Lage, ökonomische Nöte in Tugenden umzuwandeln. LIA ist ihre eigene Idee. Statt zu warten, dass sie irgendjemand an die Hand nimmt, organisiert sie sich die Lösung selbst: Räume bekommt sie von der Spinnerei, um die Finanzierung muss sie sich kümmern. Kratzsch gründet eine gemeinnützige GmbH. Als Hauptsponsoren gewinnt sie BMW und die Leipziger Heiter Blick GmbH. Mit dem Projekt scheint sich fast alles, was sie bisher gemacht hat, zusammenzufügen. Die Eltern, ein Künstlerpaar, dessen Heimat für die Kohlegewinnung weggebaggert wurde, hatte es nach Rügen gezogen. In einem touristisch nahezu toten Winkel, in Neuenkirchen, bewohnen die Kratzschs ein Haus mit Bootsanleger. Hier, wo das Schilf fast in den Horizont zu wachsen scheint, tankt die Tochter im Sommer Ruhe, von hier schieben sie die Eltern das erste Mal in die Welt, an die „School for Creative and Performing Arts“ in Cincinatti Ohio, wo Anna-Louise Malerei und Jazz-Improvisation studiert – und Saxophon spielt. Von da an geht es im Zickzack um den Globus. Zurück in Deutschland macht sie ihr Abitur am Burg-Gymnasium in Wettin. Dann führt sie der Weg nach Madrid, wo sie sich dem Spanischen und der Kunst widmet. „Ich bin jeden Tag in den Prado gegangen, wo man Aktzeichnen, Malerei und Druck studieren konnte.“ In Leipzig beginnt sie 2001 ein Studium als Dolmetscherin. Das Übersetzen von Gesetzestexten genügt ihr nicht lange, sie wechselt zu Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften. Nebenbei arbeitet sie für Judy Lybkes Eigen+Art, kuratiert unter anderem eine Gruppenausstellungen. In New York absolviert sie ein „International Studio and Curatorial Programme“, arbeitet beim Brooklyn Museum of Art und für einen Kunsthändler. 2004 macht sie ein Praktikum bei der Stiftung Federkiel, ist da gewissermaßen bei der Geburtsstunde der Spinnerei als Kunst-Zentrum dabei. Für ein Studium in London muss sie mal eben sämtliche Hausarbeiten ins Englische übersetzen. 2006 macht sie am renommierten „Courtauld Institute of Art“ einen Abschluss. Vorher und gleichzeitig hat sie bereits die Fühler nach China ausgestreckt. Im Herbst 2006 fliegt Anna-Louise Kratzsch für fünf Monate nach Peking, um die Sprache zu lernen. Ein Roman über das Leben in diesem Riesenreich entsteht. Arbeitstitel: „China – Land unter“, zurzeit im Lektorat. Wie eine Flipperkugel, scheint es, ist sie um die Welt gezogen. Eine Zigeunerin auf der Suche nach Vervollkommnung? Eine Bildungshedonistin? Wie bekommt man so viel Lebenslauf (den sie im Übrigen gerade nur auf Englisch zur Hand hat) in ein Leben? Für ihre Antwort sucht sie nicht nach lyrisch-geschraubten Formulierungen. Reisen, Lernen, Wundern sind für sie Lebens-Mittel. „Ich liebe und brauche den Austausch mit anderen Welt-Sichten.“ Punkt. Nur auf eine Sache mag sie nirgendwo verzichten, aber: „Tango kann man überall tanzen.“ Auch in Peking, wo sie beim Schuhmacher ihre roten Schuhe reparieren lassen muss und einen Menschenauflauf verursacht, denn solches Schuhwerk hatte man da noch nie gesehen. Immer schwerer falle ihr allerdings, jedes Mal aufs Neue alles zurückzulassen, was sie sich aufgebaut hat. „Und deshalb hole ich mir nun gewissermaßen die Welt hierher.“ Mit LIA macht sie ihr eigenes Ding. Und sorgen, die junge Frau komme nun nicht mehr aus Leipzig heraus, muss man sich auch nicht. An der New York Academy hält sie im Oktober einen Vortrag über Leipzigs figürliche Malereigeschichte und das LIA. Und 2009 gibt es zwei von ihr kuratierte Ausstellungen internationaler und Leipziger Künstler in Atlanta und New York. @www.LIAp.eu Jürgen Kleindienst
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