Die Sprache Radierung
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Während in den 1960er-Jahren im Outpost Theater in Westberlin die amerikanische Nationalhymne vor Hollywoodaufführungen gesungen wurde, erklang im zweihundert Kilometer entfernten Leipzig höchstens die „Internationale“. Ein kultureller Austausch mit den Vereinigten Staaten war erst nach dem Mauerfall wieder denkbar. Eine der ältesten Messestädte der Welt musste sich gedulden. Stattdessen setzte man in Leipzig künstlerische Traditionen fort und gab das Wissen darüber unter anderem an der bereits 1764 gegründeten Hochschule für Grafik und Buchkunst weiter.
Vom Mittelalter bis Anfang des 20. Jahrhunderts war Leipzig einer der weltweit bedeutendsten Standorte für das druckgrafische Gewerbe. „Es spricht für die frühesten Bestrebungen der Menschheit, zu kommunizieren und miteinander verbunden zu sein“, so die amerikanische Künstlerin Katie Armstrong. Um 1900 gab es in Leipzig über 180 Druckereien und 840 Verlage.
Mit dem Mauerfall kam auch das internationale Interesse an Leipzigs Traditionen zurück. Positiv wirkten sich die kulturell ähnlich geprägten Unternehmenskulturen Amerikas und Sachsens dabei aus, Kooperationen unmittelbar umzusetzen. Die 2007 in einer ehemaligen Baumwollspinnerei von Anna-Louise Rolland gegründete Künstlerresidenz LIA – Leipzig International Art Programme gewann die New York Academy of Art zu ihren ersten Partnern, später trat die School of Visual Arts New York hinzu.
Zwischen den Institutionen begann ein reger kultureller Austausch. Seither verbrachten viele New Yorker Gastkünstler und -künstlerinnen Arbeitsaufenthalte von mehreren Monaten in der Residenz. Mit den Künstlern Vlado und Maria Ondrej und ihrem unabhängigen Atelier für Radierung Leipzig entstand dabei eine nachhaltige Kooperation: „Wir wollten gemeinsam mit New Yorker und Leipziger Künstlern im Spannungsfeld von Malerei und Zeichnung die Grenzgebiete des Mediums ausloten und zeitgenössische Radierung entwickeln.“
Seit 2009 laden sie internationale Künstler zu sich ein, um mit ihnen in der Sprache der Radierung künstlerisch zu arbeiten. Neun Editionen sind seither entstanden. Diese zehnte nun vereint Arbeiten der deutschen Künstler Henriette Grahnert, Franziska Holstein, Volker Hüller, Vlado und Maria Ondrej sowie Matthias Weischer mit Werken der Amerikaner Katie Armstrong, Marcelo Daldoce, John Jacobsmayer, Kylie Lefkowitz und Charlotte Segall.
Vergleichbar mit der amerikanischen Black Mountain School wirkt auch diese Kooperation wie ein Katalysator, denn sie zieht lokale und internationale bildende Künstler in die Spinnerei, in deren Werkstätten, Ateliers und Kunstinstitutionen. Aber auch Künstler wie Vlado und Maria Ondrej lehren und geben Meisterkurse in den USA, unter anderem an der New York Academy of Art.
Die Sprache der Radierung ist universell und nicht an kulturelle Grenzen gebunden. Kylie Lefkowitz berichtet: „Das Drucken im Atelier für Radierung war ein sehr physischer Prozess und eine neue Erfahrung für mich: das Zerkratzen der Metallplatte mit dem Hammer, mit Nägeln, Stahlwolle, Topfkratzern und Sandpapier. Ich lernte die Technik der Photogravure kennen. Dabei handelt es sich um Fotos digitaler Dateien, die man ins Druckgrafische übersetzt.“ Die Ausführung ist ein taktiles Verfahren.
Der deutsche in New York City lebende Künstler Volker Hüller fügt hinzu: „Die frei gezogene Linie bleibt zwar persönlich, wird allerdings in Säure geworfen, mit Farbe aufgefüllt sowie gespiegelt und ist daher neutraler. Das ist sehr befreiend.“ Die Sprache der Radierung ist facettenreich. Sie kann schwarz-weiß, aber auch im Mehrfarbendruck gehalten sein. Radierung ist eine Konzession an die Macht des Bildes als Sprache. Sie führt anders als digitale Medien an die erlebte Realität heran. Das sinnliche Erleben bei der Ausführung, aber auch beim Betrachten befördert eine neue Sicht auf die Dinge.
Die Radierung ermöglicht eine Konzentration auf das Bild im Rahmen eines jahrhundertealten Kommunikationsmediums. In seiner Vervielfältigbarkeit „rückt der Fokus weg vom Bild als Original“, so Franziska Holstein. Damit eröffnet es zahlreiche Möglichkeiten des Transfers, der Kommunikation und des Austauschs. „Es gibt mehrere identische Werke einer Arbeit auf der Welt. Die Idee multipler Werke, die alle austauschbar sind, fasziniert mich. Das Flüchtige wird nun selbst zum Bestandteil des Werks“, merkt Kylie Lefkowitz an.
Leipziger Künstler wie Bastian Muhr, dessen Arbeiten von der amerikanischen Minimal Art der 1960er- und 1970er-Jahre beeinflusst sind, verbrachten Gastaufenthalte in New York. Franziska Holstein ging nach Columbus, Ohio: „Durch die Distanz zur gewohnten Umgebung kann man sich neu verorten.“ Amerikanische Künstler kommen nach Leipzig. Hier finden sie Freiheiten, die ihnen die großen Metropolen oft nicht mehr bieten können: Erschwingliche großzügige Ateliers, tradiertes Wissen und Experimentierflächen eingebunden in einen lebendigen urbanen Raum einer kreativen Szene. Internationale und lokale Künstler tauschen sich aus, befruchten sich gegenseitig.
Katie Armstrong spricht vom „Lobgesang auf die wunderbare Seltsamkeit von Einsamkeit beim Ankommen in der Fremde, in einer trotz alledem ständig digital vernetzten Welt, permanent verbunden durch Informationstechnologie.“ Der Blick von außen sensibilisiert das Sehen. Kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden sichtbar. Kylie Lefkowitz schreibt dazu: „New York City ist für mich das große hübsche Monster, eine eklektische Metropole, die Kultur und Geschäft in sich vereint. Leipzig empfand ich dagegen als ursprünglich.“
by Anna-Louise Rolland